"Eine fatale Folge der Polarisierung der Positionen im Atomkonflikt besteht darin, dass sich keine Seite mehr für Alternativen innerhalb der Kerntechnik interessiert", sagt Joachim Radkau, der bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Technikgeschichte an der Universität Bielefeld war und zahlreiche Bücher über Technik, Politik und Gesellschaft geschrieben hat (zit. in: VDI-Nachrichten, 20.05.11)
In der Frühzeit der Kernforschung sei es "bei nicht wenigen deutschen Kerntechnikern ausgemacht gewesen, dass die Deutschen in der Kerntechnik eigene Wege gehen müssten, die einem dicht besiedelten Land entsprachen". Der Kugelhaufen-Hochtemperaturreaktor sei wegen seines höheren Wirkungsgrades, aber auch wegen seiner – zumindest theoretisch denkbaren – hohen inhärenten Sicherheit favirisiert worden. Aber durch den Siegeszug der amerikanischen Leichtwasserreaktoren seien derartige Alternativen überrollt worden. Radkau: "Nun beherrschte ein neuer Typus von 'Experten' die Szene, der sich ganz daran ausrichtete, die vollendeten Fakten und investierten Milliarden zu verteidigen."
Radkau berichtet von einem Gespräch des Bundespräsident mit Experten, in dem dieser nach dem Super-GAU von Harrisburg 1979 wissen wollte, was die schlimmsten denkbaren Folgen des "unmöglichen" Unfalls wären. Radkau: "Sie sagten es ihm nicht. Mehr noch: Die einfachsten Vorkehrungen, die seine Folgen mindern – nicht verhindern – würden, waren tabu, wurden nicht vorgesehen.“
Über diesen Satz muss man sorgfältig nachdenken: "Sie sagten es ihm nicht". Und weil sie es ihm nicht sagten, wurde die Frage nach den möglichen Konsequenzen dieses Reaktotyps (Leichtwasserreaktor) dauerhaft tabuisiert? Kein Politiker im Land, der dieses Problem aufgriff und Ingenieure bzw. alterfahrenen Kernkraft-Kritiker anhörte, verstand und Lösungen einforderte?
Nicht wenige Kernkraft-Kritiker "trauern insgeheim dem Schulten-Reaktor bis heute nach", sagt Radkau. Warum insgeheim? Was haben sie zu befürchten? "In den 1950er-Jahren, einer Zeit überschwappender Atom-Euphorie – als es jedoch zivile Kernkraftwerke noch kaum gab und das „friedliche Atom“ dafür umso mehr als Projektionsfläche für Wunschträume fungierte – wiederholt Münzinger (Verfasser des ersten deutschen Standardwerks über Kernreaktoren „Atomkraft“, zuerst 1955, Anm. d. Verf.) Warnungen, wie man sie später, als in der nuklearen Community Sprachregelungen durchschlugen, nur noch in der Anti-AKW-Literatur findet. Nicht ohne innere Logik wurde die Risikoreflexion dort, wo die Experten sie unterdrückten, von den Laien aufgegriffen. Münzinger zeigt, dass die Dinge auch anders hätten laufen können." (Hervorh. vom Verf.)
Der Weg zu einer ernsthaften Risikoreflexion und Entwicklung der Kernforschung wurde allerdings in dem Moment verschlossen, als die Kritiker die Nische verließen, sich in eine politische Strömung einreihten, in der es nicht um die Erforschung der Risiken und Alternativen der Kerntechnologie, sondern primär um die Durchsetzung politischer Machtinteressen geht.
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